Wo steht die EU im Jahr 2022?

Am 23. Mai 2022 hat das Statistische Amt der Europäischen EU (Eurostat) die diesjährige Ausgabe seines SDG-Monitoring-Berichts veröffentlicht. Dieser fasst die Ergebnisse einer quantitativen Untersuchung des Fortschritts der EU bei der Agenda 2030 zusammen.

Das Monitoring erfolgte auf der Grundlage von rund 100 Indikatoren, die nach den Kriterien Verfügbarkeit, Ländererfassung, Aktualität und Qualität der Daten ausgewählt wurden. Sie sind nicht mit den offiziellen UN-Indikatoren identisch, sondern an EU-Politik und Phänomene, die im EU-Kontext besonders relevant sind, angepasst.

Insgesamt fällt die Bilanz gemischt aus. Zwar hat die Europäische Union in Hinblick auf die meisten SDGs Fortschritte gemacht – bei SDG 1, 7, 8, 9, 16 und z.T. 3 wurden die Fortschritte sogar als signifikant eingeschätzt –, bei einigen SDGs reicht diese Verbesserung jedoch nicht aus, um die Ziele bis 2030 zu erreichen. In Bezug auf SDG 6, 15 und 17 wurden sogar Rückschritte beobachtet.

 
  • Bei der Armutsbekämpfung hat die EU in der Eurostat-Studie in allen Bereichen positiv abgeschnitten. Immer mehr Menschen in der EU können demnach ihre Grundbedürfnisse befriedigen, die Zahl der von Einkommensarmut oder starker materieller und sozialer Not betroffenen Menschen ist gesunken, ebenso die Zahl (quasi-)arbeitsloser Haushalte. Auch die Wohnungssituation hat sich verbessert. Allerdings wurden die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Armutsentwicklung von den Daten nicht erfasst.

  • Im EU-Kontext liegt der Fokus bei SDG 2 auf Fehlernährung sowie auf der Nachhaltigkeit der landwirtschaftlichen Produktion. In Bezug auf den ersten Aspekt ist ein negativer Trend zu beobachten: Immer mehr Menschen in der EU sind übergewichtig oder fettleibig. Im Bereich Landwirtschaft sieht das Bild besser aus. Die Arbeitsproduktivität des Sektors konnte gesteigert werden und Inves-titionen in landwirtschaftliche Forschung und Entwicklungen haben zugenommen. Positiv ist auch, dass mehr und mehr Flächen ökologisch bewirtschaftet werden, allerdings muss der Anteil solcher Flächen noch mehr wachsen, damit das 25 %-Ziel erreicht werden kann. Auch die Nutzung gefährli-cher Pestizide sinkt zu langsam. Außerdem steigen die Nitratwerte im Grundwasser immer weiter an, und Feldvögel verschwinden mehr und mehr. Demgegenüber steht eine positive Entwicklung bei der Verringerung des Risikos für wasserbedingte Bodenerosion und der Ammoniak-Emissionen.

  • Die Daten zu SDG 3 spiegeln die Auswirkungen der Pandemie noch nicht wider. Insgesamt ergab die Untersuchung einen positiven Trend. Weniger Menschen leiden unter Lärm oder Luftver-schmutzung, es gibt weniger Raucher*innen und Todesfälle durch HIV, Tuberkulose und Hepatitis sowie durch Arbeits- und Verkehrsunfälle nehmen ab. Allerdings wurde das für 2020 gesteckte Ziel für die Verringerung von Verkehrsunfällen nicht erreicht. Der Zugang zu Gesundheitsleistungen hat sich in den letzten Jahren grundsätzlich verbessert, aber die Zahl derer, die ihre Gesundheitsbedürfnisse nicht befriedigen können, stagniert seit 2017. Negativ zu bewerten ist außerdem die Zu-nahme übergewichtiger und fettleibiger Menschen.

  • Im Bereich Bildung weist der Bericht auf zwei gegenläufige Entwicklungen hin. Zwar sei die EU in Bezug auf die Teilhabe an Bildung auf einem guten Weg, die Zahl derer, die schlecht lesen können oder unzureichende Fähigkeiten in Mathe oder Naturwissenschaften haben, hat jedoch zugenommen. Fortschritte gab es in der Erwachsenenbildung. Der Zugang zu frühkindlicher Erziehung sowie der Anteil der Erwachsenen mit IT-Grundlagenkenntnissen stagnieren jedoch, was die Erreichung der Ziele in diesen Bereichen schwierig bis unwahrscheinlich macht.

  • In Sachen Geschlechtergerechtigkeit verbessert sich die Lage in der EU kontinuierlich. So hat sich der Gender-Pay-Gap und auch der Gender-Employment-Gap weiter verringert, und mehr und mehr Frauen sind in Führungspositionen. Allerdings sind wir von echter Parität noch weit entfernt. Im Bereich Bildung ist der Gender Gap umgekehrt und verstärkt sich, d.h. Jungen und Männer haben im Vergleich zu Mädchen und Frauen immer weniger Bildungserfolge.

  • Bei SDG 6 ist die Bilanz insgesamt neutral. Die Sanitärversorgung hat sich verbessert und immer mehr Haushalte haben Anschluss zu (zumindest) sekundärer Abwasserbehandlung. Die Wasserqualität hat sich jedoch weiter verschlechtert: Der biochemische Wasserstoffbedarf in Flüssen ist gesunken, bei steigender Phosphatkonzentration. Auch die Nitratkonzentration hat zugenommen, bleibt jedoch unter den zugelassenen Grenzwerten. Zudem gibt es immer weniger Badestellen mit guter Wasserqualität.

  • In Hinblick auf den Energieverbrauch konnte die EU nur dank des wegen der Pandemie stark gefallenen Energieverbrauchs im Jahr 2020 ihr Energieeffizienzziel für 2020 erreichen, wodurch sie dem Bericht zufolge wieder im Zeitplan für 2030 liegt. Der Anteil erneuerbarer Energien ist außerdem nach Plan gestiegen, und die EU konnte ihre Abhängigkeit von Energieimporten leicht verringern. Auch der 5-Jahres-Trend in Bezug auf den Zugang zu bezahlbarer Energie ist positiv. Allerdings gab es im Jahr 2020 mehr Menschen, die ihre Wohnung nicht angemessen heizen konnten und der Energiepreisanstieg seit 2021 ist noch nicht miteinbezogen.

  • Die Untersuchung zeigt, dass sich die EU, was Wirtschaft und Arbeitsmarkt betrifft, von den Aus-wirkungen der Pandemie erholt. Das BIP ist 2021 stark gewachsen, auch wenn es noch leicht unter vorpandemischem Niveau liegt. Die EU-Beschäftigungsrate lag 2021 bei 73,1 % und es gibt weniger Jugendarbeitslosigkeit. Allerdings ist der Fortschritt bei der Beschäftigung nicht groß genug, um die Ziele bis 2030 zu erreichen. Die Langzeitarbeitslosigkeit und der Anteil der ‚working poor‘ ist gefallen, außerdem gab es weniger tödliche Arbeitsunfälle. Insgesamt sorgt der Krieg jedoch für wachsende Unsicherheiten.

  • Im Bereich Infrastruktur, Industrialisierung und Innovation gab es signifikante Fortschritte. Ausgaben in Forschung und Entwicklungen sowie der Anteil an Menschen, die im Bereich Forschung und Entwicklung arbeiten, sind gestiegen. Der Anteil junger Menschen mit Hochschulausbildung wächst. Zudem gehen immer mehr Patentbewerbungen beim Europäischen Patentamt ein und die Emissionsintensität des Manifacturing-Bereichs der Industrie ist gesunken. Die Bruttowertschöpfung von Umweltgütern und -dienstleistungen ist außerdem gestiegen. In Hinblick auf nachhaltige Infrastruktur kam die Untersuchung zu gemischten Ergebnissen. Negativ ist die Entwicklung, dass der Passagier- und Frachttransport sich zunehmend von umweltfreundlichen Transportmitteln ab-wendet, positiv hingegen ist die Tatsache, dass immer mehr Haushalte High-Speed-Internet genießen.

  • Moderate Fortschritte gab es in Hinblick auf das Ziel, Ungleichheiten in und zwischen Ländern zu verringern. So ist das Stadt-Land-Gefälle gesunken und die Integration von Migrant*innen in den Arbeitsmarkt hat sich verbessert. Die Situation von EU- und Nicht-EU-Bürger*innen in Bezug auf Ausbildung und Einkommen gleicht sich immer weiter an. Auch hier liegen jedoch Daten von vor der Pandemie zugrunde.

  • Die Lebensqualität in Städten und Gemeinden hat sich dem Bericht zufolge stark verbessert. Positive Trends gibt es in Hinblick auf Wohnungsnot, Lärmbelästigung, Feinstaubbelastung, Kriminalität, Gewalt und Vandalismus. Allerdings ziehen immer Menschen das Auto öffentlichen Verkehrsmitteln vor. In den letzten Jahren starben weniger Menschen in Verkehrsunfällen, aber das Ziel, die Zahl an Verkehrstoten bis 2020 zu halbieren, wurde nicht erreicht. Negativ ist auch der zunehmend starke Landverbrauch und die Verlangsamung des Anstiegs der Recycling-Quote. Das Ziel für 2030 gerät dadurch in weite Ferne.

  • Im Bereich Konsum und Produktion wurden moderate Fortschritte verzeichnet. Der materielle Fußabdruck der EU hat sich seit 2014 vergrößert, und auch der Verbrauch von gefährlichen Chemi-kalien ist gestiegen. Große Fortschritte wurden dagegen bei der CO2-Emissionseffizienz von neuen PKWs erzielt. Diese reichen jedoch noch nicht aus, um die Ziele zu erreichen. Die Müllproduktion ist seit 2014 gestiegen, aber die Materialeinsatzquote hat sich verbessert. Außerdem ist die Brutto-wertschöpfung von Umweltgütern und -dienstleistungen stark gestiegen.

  • Bei SDG 13 fällt die Bilanz insgesamt leicht positiv aus. Laut Schätzungen für 2020 hat die EU ihre Treibhausgasemissionen seit 1990 schon um 31 % verringert. Um das neue 55 % -Ziel der EU zu erreichen, muss allerdings noch mehr getan werden, insb. angesichts des erwarteten Emissionsan-stieg im Zuge der Erholung der Wirtschaft. Zudem hat die Kohlenstoffentfernung durch die Land-nutzung und den Waldsektor in den letzten Jahren abgenommen. Im Bereich CO2-Emissionseffizienz von PKWs besteht trotz signifikanter Fortschritte weiterhin Handlungsbedarf. Bedenklich sind auch die steigenden Kosten durch wetter- und klimabedingte Katastrophen. Positiv ist dagegen die steigende Zahl der Unterschriften beim Covenant of Mayors for Climate and Energy sowie der immer größere Beitrag der EU zur Klimafinanzierung in Entwicklungsländern

  • Die Entwicklungen bei der Erhaltung der Unterwasserwelt und beim nachhaltigen Fischfang bewertet der Bericht positiv. Beispielsweise hat sich der Bereich geschützter Gebiete seit 2012 mehr als verdoppelt. Allerdings gibt es keine verlässlichen Daten über die Effektivität des Schutzes. Der Fischbestand hat sich sowohl im Nordostatlantik als auch im Mittelmeer und im Schwarzen Meer leicht erholt. Auch der Zustand von Badestellen hat sich verbessert. Die Versäuerung des Oberflächenwassers aufgrund der Absorption von CO2 hat hingegen 2020 einen neuen Rekordwert erreicht.

  • Die Biodiversität in der EU steht nach wie vor unter immensem Druck. Zwar gibt es mehr Schutzgebiete, aber die Landnutzung, inkl. Bodenversieglung, intensiviert sich, wodurch Vogel- und Schmetterlingsarten verschwinden. Der biochemische Sauerstoffbedarf in Flüssen hat abgenommen, aber die Phosphatkonzentration in Flüssen steigt. Auch wenn positiv ist, dass das Risiko für Bodenerosion durch Wasser gesunken ist, ist der Zustand der Ökosysteme und der Biodiversität in der EU insgesamt eher kritisch.

  • Die größten Fortschritte der EU bei der Agenda 2030 wurden in Hinblick auf SDG 16 verzeichnet. So hat die EU in den vergangenen Jahren Frieden und persönliche Sicherheit auf ihrem Territorium gefördert und den Zugang zur Justiz sowie das Vertrauen in Institutionen verbessern. Es gab weniger Morde und Überfälle, und Kriminalität, Gewalt und Vandalismus haben in der Wahrnehmung der Bürger*innen abgenommen. Außerdem sind die Regierungsausgaben für Gerichte gestiegen, und das Vertrauen der Bevölkerung in die Unabhängigkeit der Justiz und in die EU-Institutionen hat sich vergrößert.

  • Das Fazit für SDG 17 fällt neutral aus. Importe aus Entwicklungsländern sind zwar gestiegen, aber die finanzielle Unterstützung für diese Länder sinkt. Dies betrifft allerdings in erster Linie private Gelder, denn die offizielle Entwicklungshilfe wurde ausgebaut. Zudem hat sich der Wert von Importen aus Entwicklungsländern vergrößert. Die Schulden-BIP-Ratio ist nach einem Rekordhoch im Jahr 2020, 2021 leicht gefallen. Negativ schlägt der weiter sinkende Anteil an Umweltsteuern an den gesamten Steuereinnahmen zu Buche. Dass immer mehr Haushalte Zugriff auf High-Speed-Internet haben, ist dagegen ein positiver Trend.